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:: Videoüberwachung am Bahnhof Wilhelmshöhe Kassel für 2021 geplant - Bestandsaufnahme und Kommentar ::

Wie bereits Anfang dieses Jahres durch die Presse bekanntgegeben, soll der Bahnhof Wilhelmshöhe in Kassel Ende 2021 Videoüberwachung erhalten. Die hier geplante Videoüberwachung, welche im Rahmen einer Sicherheitspartnerschaft durch Bundespolizei und Bahn betrieben werden soll - auch hier wieder forciert durch die SPD gleich dem Vorhaben des sozialdemokratischen Oberbürgermeisters Christian Geselle - erscheint den Befürwortern dieser Maßnahme als dringend notwendig und längst überfällig, wie der bisherigen Berichterstattung zum Thema zu entnehmen ist. Taschendiebstähle und Körperverletzungen sowie gravierende Delikte wie bspw. der tragische Tod eines Kindes am Frankfurter Bahnhof im Juli 2019, sind gegenwärtige Argumente einer erweiterten Inbetriebnahme und Ausdehnung von Überwachungskameras an Bahnhöfen. Während Videoüberwachung als Unterstützung polizeilicher Ermittlungsarbeit bzgl. Kriminaldelikten an Bahnhöfen durchaus konstruktiv diskutiert werden kann, lassen die hervorgebrachten als notwendig formulierten Ziele einer Überwachung und die diesbezügliche Berichterstattung zu diesem Thema teils sehr zu wünschen übrig. Wieder wird Videoüberwachung konsequent als „Wundermittel“ gepriesen, wobei jegliche kritischen Aspekte solcher Überwachungsprojekte außen vor bleiben. Schaut man zudem den Berichterstattern zur Thematik genauer auf die Finger, lassen sich auch schnell handwerkliche Fehler erkennen, wobei wir diesen Boulevardblattniveau zu attestieren geneigt sind:

Im Audiobeitrag der Hessenschau vom 06.01.2020 verlautbart der Sprecher zum geplanten Einsatz von Videoüberwachung:

Ein Drama wie im Juli in Frankfurt, wo eine Mutter mit Kind vor einen Zug gestoßen wurde, soll so verhindert werden.“

Bedauerlicherweise hat Videoüberwachung diese Katastrophe nicht verhindern können. Dies sollte den Hessenschau Reportern eigentlich aufgefallen sein, spätestens als sie im auf den Audiobeitrag folgenden Text von dem Vorhandensein von Videoüberwachung am Bahnhof Frankfurt schreiben.

Weiter sind Sicherheit und Sicherheitsgefühl auch in dieser geplanten Maßnahme wieder einmal Stichworte und Taktgeber einer Durchsetzung von erneuten Überwachungsbefugnissen und einer damit einhergehenden erhofften Akzeptanz von Videoüberwachungen auf Seiten der Bevölkerung respektive der Nutzerinnen und Nutzer des Bahnhofs Wilhelmshöhe. Gefragt wird hier auch scheinbar gar nicht erst nach einer tatsächlichen Kriminalitätsstatistik oder einer „empirisch“ belegbaren Notwendigkeit. Taschendiebstähle beispielsweise legitimieren unserer Meinung nach längst keine „präventive Videoüberwachung“, solchen Delikten entgegen wiegt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts aller Bürgerinnen und Bürger durch massiven Ausbau von Videoüberwachung weitaus mehr. Körperverletzungen sind, wie an anderer Stelle bereits betont, selten geplante und auf Lokalisierungen bezogene tatrationale Delikte, welche durch Videoüberwachung verhindert werden (könnten). Um es auch in diesem Kontext noch einmal hervorzuheben, „Kriminalitätsschwerpunkte“ bedürfen selten und wenn überhaupt nur einer dezidiert geplant und gestalteten sowie streng evaluierten Videoüberwachung, ansonsten ist diese Maßnahme als „Ausweichsregelung“ identifizierbar, wobei dieser vorgelagert immer eine Bearbeitung und Bewältigung von Ursachen potentieller Konflikte zu stehen hat, um diese sich überhaupt gar nicht erst entwickeln zu lassen. Der Ausbau des Bahnhofs Wilhelmshöhe mit Videoüberwachungssystemen ist im Ensemble gegenwärtiger Überwachungsinstrumentarien lediglich präventives Agieren, ein Schustern an den ewig gleichen und auch durch stetes Wiederkäuen nicht „gesicherten“ Koordinaten „Sicherheit“ und „Sicherheitsgefühl“.

Aufmerksamen Nutzerinnen und Nutzern des Bahnhofs Wilhelmshöhe mag es nicht entgangen sein, daß sich an den Bahnsteigen tatsächlich schon Videokameras befinden. Diese dienen in erster Linie zu betriebstechnischen Beobachtungen seitens der Bahn sowie dem Überblick zu Ein- und Ausstiegsszenarien. Doch auch auf diese Kameras kann die Bundespolizei bei Bedarf längst zugreifen. Die hier angekündigte Einführung von Videoüberwachung ist somit vielmehr eine Erweiterung, ein Ausbau von Überwachungsräumen. Durch das Bundespolizeigesetz wird die Bundespolizei de jure in die Lage versetzt, an Anlagen und Einrichtungen der Bahn „selbsttätige Bildaufnahme- und Bildaufzeichungsgeräte“ einzusetzen. Dabei kommt das von der Bahn gepriesene Produkt „Betriebsgeführte Videoüberwachung“ zum Einsatz, welches von der Bahn an entsprechende Stellen verkauft wird. Entgegen einer Einführung von Videoüberwachung am Bahnhof Wilhelmshöhe geht es hier in der Diskussion also vielmehr um das Ausmaß des Umbaus von Überwachungsinfrastruktur, die Erweiterung oder die Neustrukturierung von Videoüberwachung - Videoüberwachung unter neuen Vorzeichen. Für den Bahnhof Wilhelmshöhe ist dann zumindest eine Ausweitung von Videoüberwachung auf den gesamten Vorplatz, den Eingangsbereich sowie die Auf- und Abstiege zu den Gleisen erwartbar.

Die Aufnahmen der Überwachungskameras werden von der Bundespolizei gespeichert, welche eine vertragliche Datenverarbeitung mit der Bahn vereinbart. Der Gesetzgeber hat der Bundespolizei eine Speichermöglichkeit der Videoaufnahmen bis zu einem Monat ermöglicht. I.d.R. wird bei solchen Vorhaben eine Einschätzung der Bundespolizei gegeben, wobei eine Videoüberwachung „erforderlich, angemessen und verhältnismäßig“ zu sein hat. Als Bezugspunkte dienen hierbei die Kriminalitätsstatistik als auch das quantitative Aufkommen an Fahrgästen.

Um einen Ausblick zu wagen soll hier gleich ein Verweis auf neue biometrische Verfahren im Rahmen von Videoüberwachung aufmerksam gemacht werden. Wie weiter oben bereits angedeutet, scheint aus den Reihen der Sozialdemokratie immer weniger zu erwarten zu sein, wenn es um das Verhindern eines Ausbaus von Videoüberwachung geht. Zumindest bisher stellt sich Saskia Esken noch gegen einen Gesetzentwurf aus dem Bundesinnenministerium, welches unter Horst Seehofer Videoüberwachung mit Gesichtserkennung u.a. an Bahnhöfen ausbauen möchte siehe hier.

Im Kern geht es um eine Kompetenzerweiterung durch einen Gesetzentwurf des Bundesinnenministeriums, in welchem eine Ausdehnung der Zuständigkeiten und Befugnisse der Bundespolizei auf das ganze Land gestaltet werden soll. Videoüberwachung mit Gesichtserkennung wurde im Rahmen eines Pilotprojekts am Berliner Bahnhof Südkreuz getestet und mit schöngerechneten Ergebnissen als Erfolgsprojekt verkauft. Videoüberwachung mit Gesichtserkennung greift massiv in Freiheitsrechte und Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Nutzerinnen und Nutzer im öffentlichen Raum ein, dieses Vorhaben torpediert radikal die Möglichkeit, sich frei und unbeobachtet außerhalb der eigenen vier Wände bewegen zu können. Es stellt alle Bürgerinnen und Bürger – gleich einer Vorratsdatenspeicherung - unter Generalverdacht, es erschafft völlig neue Dimensionen im Hinblick auf die Generierung und Archivierung von Bewegungsprofilen und würde mit einer Einführung eine erhebliche Beschädigung unserer Freiheitsrechte bedeuten, wodurch uns als Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit und das Recht auf Privatsphäre und Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum weitestgehend genommen wird.

Sollte dieses Instrument der Beschädigung unserer Bürgerrechte Anwendung finden, ist es auch für Kassel und den Bahnhof Wilhelmshöhe von Belang. Für die kommende Stadtverordnetenversammlung am 02.11.2020 in Kassel, hat die Fraktion FDP, Freie Wähler, PIRATEN einen Antrag zum Verzicht auf automatisierte Gesichtserkennung eingereicht.

Zum Thema der automatisierten Gesichtserkennung hat sich ein Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Organisationen formiert, welches umfangreiche Informationen zum Gegenstand sowie Handreichungen und Hilfestellungen bietet, um gegen dieses obszöne Überwachungsprojekt aktiv zu werden. https://www.gesichtserkennung-stoppen.de

:: „Wir wollen jetzt endlich die Videoüberwachung" ::

Teile der Kasseler CDU-Fraktion können es offenbar gar nicht abwarten, bis Oberbürgermeister Christian Geselle bzw. der Magistrat endlich seiner Zusage einer Videoüberwachung auch der Oberen Königsstraße nachkommt. Dies wird u.a. aus den Anträgen der nächsten Stadtverordnetenversammlung deutlich.

Es lohnt sich hierbei ein genauerer Blick auf das Geschwurbel des sicherheitspolitischen Sprechers der CDU-Fraktion Stefan Kortmann. Kortmann nimmt die augenscheinlichen Differenzen innerhalb der SPD-Fraktion zu diesem Thema zum Anlaß, Oberbürgermeister Christian Geselle zu attackieren (siehe hier). Das bisherige nicht-zustande-kommen der Videoüberwachung in der Oberen Königsstraße münzt Law-and-Order-Fetischist Kortmann auf vermeintlich durchsetzungsstarke "linke Ideologien" in den Reihen Geselles. Problematisch ist hier nicht die aus konservativen Kreisen hinlänglich bekannte Etikettierung der politischen (sozialverträglichen) Gegenseite als "links". Was hier von Kortmann implizit im Rahmen einer Kritik an Geselle vorgetragen wird, ist, einen möglichen Eingriff in das Freiheitsrecht, das Bedürfnis nach Privatsphäre, sich unbeobachtet von polizeilichen und staatlichen Stellen im öffentlichen Raum bewegen zu können, als "linke Ideologien" abzutun. Das ist die eigentliche Unverschämtheit seitens der Kasseler CDU-Fraktion, vertreten durch Herrn Kortmann, welche hier radikal unter Zuhilfenahme eines Pejorativs an einer unreflektierten Konstruktion von Überwachung der Kasseler Bürger schustert und sich dabei Formulierungen wie "linken Ideologien" bedient, um ihre argumentativ inhaltslosen Figuren einem konservativ gepolten Publikum und sonstigen bereitwilligen Empfängern von Plattitüden feil zu bieten. Plumper liest sich eine Law-and-Order Romantik selten.

Kortmann wird nicht müde, Vertretern der SPD, welche Vorbehalte gegenüber einer "anlasslosen" Videoüberwachung zu haben scheinen, mit der Ideologiekeule zu kommen (siehe hier).

Wir werden Herrn Geselle zwingen, zu seinem Versprechen zu stehen und endlich die Sicherheit für die Besucher der Innenstadt zu verbessern. Oder sollte es tatsächlich dazu kommen, dass sich eine bestimmte Gruppe in der SPD, die ihre Ideologie über die Sicherheit der Menschen stellt, durchsetzt?"

Der Terminus "Zwang" ist hier sinnstiftend für die ordnungs- und sicherheitspolitische Ausrichtung von Teilen der CDU-Fraktion und verweist ohne Umschweife auf Kortmanns übergriffig sicherheitspolitisches Ansinnen. Auch "Sicherheit" soll den Bürgern  offenbar "aufgezwungen" werden, folgerichtig sollen dann wohl auch nicht-erwünschte Bevölkerungsteile "gezwungen" werden, den innerstädtischen Raum zu meiden, was ferner als die logische Konsequenz zu lesen wäre. Zwang ist weitläufig ein Mittel von autoritären Charakteren, um eigene, die klassenbedingten selbsterhaltenden, Motive durchzusetzen respektive zu etablieren.

Kortmann unterstellt einer "bestimmten Gruppe", dies sind wohl die "Abweichler" von Herrn Geselle innerhalb seiner Partei, jene, welche vielleicht noch bemüht sind, kritische Fragen zu stellen und überhaupt noch Vorbehalte anlässlich eines Überwachungsprojektes dieses Ausmaßes haben, "Ideologie über die Sicherheit der Menschen" zu erheben. Anhand dieser Aussagen offenbart sich das Modell obszöner Politik, welche mit plumpen Phrasen Stimmenfang betreibt, welche versucht, mittels aggressiver Rhetorik das Proprium der Thematik zu verdrängen und hier, in diesem Fall, überhaupt erst "Unsicherheitsgefühle" durch sprachlich konstruierte Risikobedingungen erschafft.

Wir wollen jetzt endlich die Videoüberwachung" (siehe hier). Kortmann wird nicht müde mittels medialen Präsenzen die falschen Ideologien seiner politischen Gegener anzuprangern: "Es kann nicht sein, dass dieses gute Mittel immer wieder in Kassel Opfer einer falschen Ideologie von Rot und Grün wird".

Kortmann ignoriert in seinen Äußerungen jegliche konstruktiv-kritischen Fragen, welche an Videoüberwachung gestellt werden können. Der Internetauftritt des sicherheitspolitischen Sprechers der Kasseler CDU-Fraktion liest sich wie ein billiges Boulevardblatt, es verzichtet auf Faktenwissen und einer rationalen Betrachtung der Thematik, bedient sich lahmen und inhaltsleeren Angriffsvokabeln wie "linken Ideologien" und wirkt im Gesamt plump und gänzlich undifferenziert.

Die CDU gibt ein trübes Bild ab, wenn sie mit solchem Banalismus meine "Sicherheit" als Nutzer der Innenstadt erhöhen möchte.

:: Antrag für die Stadtverordnetenversammlung am 02.11.2020 - Fraktion FDP, Freie Wähler und Piraten ::

Antrag für die Stadtverordnetenversammlung am 02.11.2020 der Fraktion FDP, Freie Wähler, Piraten:


Verzicht auf automatisierte Gesichtserkennung

Antrag


zur Überweisung in den Ausschuss für Recht, Sicherheit, Integration und
Gleichstellung


Die Stadtverordnetenversammlung wird gebeten, folgenden Beschluss zu fassen:


1. Der Magistrat wird aufgefordert, stets aktuell zu veröffentlichen, welche
Überwachungstechnologien von Ordnungsbehörden und Polizei in der Stadt
Kassel eingesetzt werden. Der Einsatz neuer Technologien ist den
Stadtverordneten vor dem Einsatz anzukündigen.


2. Die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Kassel erkennt die großen
Gefahren und den schweren Eingriff in die Grundrechte und Privatsphäre der
Bürgerinnen und Bürger durch den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware.
Deswegen schließt sie für ihren Zuständigkeitsbereich den Einsatz von
Technologien aus, die Personen anhand biometrischer Merkmale in
Videoaufzeichnungen identifizieren und fordert den Oberbürgermeister und
die Polizei auf, im Stadtgebiet ebenfalls auf den Einsatz dieser Technologie zu
verzichten.


3. Der Magistrat wird aufgefordert, mit der Deutschen Bahn Gespräche
aufzunehmen mit dem Ziel auch am Bahnhof Wilhelmshöhe die
Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu schützen und vor den
schwerwiegenden Eingriffen durch die Gesichtserkennung zu schützen.


Begründung:


Videoüberwachung mit Gesichtserkennung ist ein zu hoher Eingriff in die
Freiheitsrechte. Die falsch positiven Fehlalarme schaden der Sicherheit mehr als die
Überwachung ihr nutzt. Unschuldige Menschen geraten ins Visier.
 
 Mehrere amerikanische Städte haben bereits auf kommunaler Ebene den Einsatz
von Gesichtserkennungssoftware ausgeschlossen. Unter den Städten sind
insbesondere Kommunen, in denen viele HighTech-Unternehmen angesiedelt und
eine besondere Kompetenz in der Technologiebewertung unterstellt werden kann.
San Francisco war die erste Stadt, die die Gesichtserkennung aus der Stadt
verbannt hat [1]. Boston ist derzeit die zweitgrößte Stadt mit einem
entsprechenden Beschluss. Auch in Oakland, Cambridge und Berkeley darf keine
Gesichtserkennungstechnologie eingesetzt werden [2].


Es steht der Stadt Kassel gut zu Gesicht, sich in die Reihe dieser Städte
einzugliedern, die Gefahren dieser Technologie erkennt und die Freiheit und
Privatsphäre klar vor die Überwachung stellt.


Die Technologien zur Gesichtserkennung sind stark fehlerbehaftet und die
Ergebnisse hängen stark von der Hautfarbe ab. Es kommt zu einer hohen Zahl von
falschen Erkennungen und falschen Verdächtigungen [3].


Durch die Identifizierung von Personen im öffentlichen Raum werden
Bewegungsprofile, das persönliche Umfeld und persönliche Gewohnheiten
staatlich überwacht. Technologisch ist auch die Analyse des Gemütszustands
möglich. Das Missbrauchspotential ist riesig und hat in den genannten US-Städten
bereits zum Ausschluss der Technologie geführt.


Quellen:
[1] https://www.fr.de/wissen/ueberwachungssysteme-francisco-verbietet- gesichtserkennung-12286332.html
[2] https://www.welivesecurity.com/2020/06/25/boston-facial-recognition- technology-banned-another-us-city/
[3] https://netzpolitik.org/2018/diskriminierende-gesichtserkennung-ich-sehe- was-was-du-nicht-bist/


Berichterstatter/-in: Stadtverordneter Volker Berkhout


gez. Matthias Nölke Fraktionsvorsitzender

 

:: Anträge für die Stadtverordnetenversammlung am 02.11.2020 zum Thema Ausbau der Videoüberwachung in der Kasseler Innenstadt ::

Für die nächste Stadtverordnetenversammlung am 02.11.2020 liegen derzeit zwei Anträge bzgl. des Ausbaus von Videoüberwachung in der Oberen Königsstraße vor, einer von der CDU und einer von der Fraktion Wir für Kassel (WfK).

Wir für Kassel (WfK):

"Videoüberwachung Obere Königsstraße

Antrag

zur Überweisung in den Ausschuss für Recht, Sicherheit, Integration und
Gleichstellung

Die Stadtverordnetenversammlung wird gebeten, folgenden Beschluss zu fassen:

     Die Obere Königsstraße wird nicht, auch nicht in Teilen, videoüberwacht.

Begründung:

An öffentlich zugänglichen Orten dürfen Polizei und Kommunen Videokameras nur
einsetzen, soweit dies zur Gefahrenabwehr erforderlich ist. Die konkreten
rechtlichen Voraussetzungen dazu ergeben sich aus dem Hessischen Gesetz über
die öffentliche Sicherheit und Ordnung (§ 14 Abs. 3 und 4 HSOG). Diese
Voraussetzungen liegen für die Obere Königsstraße nicht vor.

Berichterstatter/-in: Stadtverordneter Dr. Bernd Hoppe

gez. Dr. Bernd Hoppe

Fraktionsvorsitzender"

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CDU:

"Videoüberwachung 2020

Antrag

zur Überweisung in den Ausschuss für Recht, Sicherheit, Integration und
Gleichstellung

 

Die Stadtverordnetenversammlung möge beschließen:

Der Magistrat wird aufgefordert, entsprechend den Zusagen von
Oberbürgermeister Geselle, noch im Jahr 2020 eine Videoüberwachung in der
Innenstadt einzurichten.

 

Begründung:


Berichterstatter/-in: Stadtverordneter Stefan Kortmann

gez. Dr. Michael von Rüden
Fraktionsvorsitzender"

:: Videoüberwachung in Kassel 2020 - ein Kommentar zur innerstädtischen Ausweitung von Überwachungsinfrastruktur ::

Bereits seit mindestens 2017 im Gespräch, nun aufgrund der erfüllten damaligen anstehenden strukturellen Anforderungen - dem Umbau der Königsstraße - wieder aktuell, das Thema einer Erweiterung der Videoüberwachung in der Kasseler Innenstadt. Oberbürgermeister Christian Geselle, von Haus aus Polizist und Jurist, somit vermeintlich qua Ausbildung ein Spezialist, Fachmann und Experte für Sicherheit, liegt das diffuse und nicht näher bestimmbare „Sicherheitsgefühl“ der Kasseler Bürger nach wie vor sehr am Herzen. Daher bringt er eine Ausweitung der Videoüberwachung auch der Oberen Königsstraße in Gang, welche bisher lediglich partiell durch Kameras von nicht-öffentlichen Stellen überwacht worden ist. (Wie diese Seite dokumentiert, wird der „Kriminalitätsschwerpunkt“ Untere Königsstraße bereits seit langem von drei Kameras in den Blick genommen.) Da diese besagten Umbauten nun abgeschlossen sind, ist entsprechend mit einer Konkretisierung der Pläne zu rechnen.
Bereits mit Ankündigung des Vorhabens eines Ausbaus der Videoüberwachung in der Kasseler Innenstadt ist im Jahr 2017 ein sicherheitspolitisches Konzept unterschiedlicher Fraktionen der Kommunalpolitik gefordert worden, in dessen Rahmen der geplante Ausbau zu bewerten und zu verhandeln sei. Meinen Informationen zufolge liegt dieses Sicherheitskonzept bis zum heutigen Tage nicht vor, was kein Hinderungsgrund für den Oberbürgermeister zu sein scheint, neue Kamerasysteme installieren zu lassen.
Das vorgebrachte „Theorem“ des Sicherheitsgefühls zielt inhaltlich erfahrungsgemäß ins Leere, da es in letzter Konsequenz nicht das hält, was es verspricht. Fühlen sich Nutzer des öffentlichen Raumes durch Videoüberwachung vielleicht auch erstmal „sicher“, wird diese Sicherheit tagtäglich unter den Augen von Kameras durch Delikte wie bspw. affektierten Gewalttaten konterkariert. Im Fokus steht m.E. auch hier in Kassel vielmehr das Bild einer sauberen und ordentlichen Stadt, welche keinen Platz bietet für Randgruppen wie Junkies, Bettler und sonstige den Glanz des innerstädtischen Konsumapparates störenden Glückes der „anständigen“ Nutzer des öffentlichen Raumes - wenngleich diese „Randgruppenbelästigung“ durch Videoüberwachung innerstädtisch nicht oder nur bedingt reduziert werden wird. Zumindest scheint das Narrativ des Sicherheitsgefühls implizit werbeeffektiv im Hinblick auf das zukünftige „temporäre“ Wohlbefinden der Bürger zu sein. Die Argumentation des aus dem Rathaus tönenden „Sicherheitsgefühls“ und der Forderung um Ausweitung einer kameraüberwachten Innenstadt, steht dem ordentlichen Einsatz von Videoüberwachung vor dem Hintergrund einer erforderlichen Gefahrenabwehr - wie der Einsatz im Hessischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung kodifiziert ist - im ersten Blick diametral gegenüber. Die durch Polizei und Kommunen überwachten Orte müssen als erwartbare und potentiell risikobehaftete Orte mit Aussicht auf zu begehende Straftaten gewertet werden. Dies ist m.E. nicht haltbar für den Bereich der Oberen Königsstraße. Es bleibt abzuwarten, ob mit dem Sicherheitskonzept für die Stadt Kassel somit nicht doch noch die nötige Hintertür geschaffen wird, um weitere Teile der Innenstadt als „gefährlich“ zu deklarieren und die diskursive Grundlage für den Ausbau der Videoüberwachung (nachträglich) zu schaffen und zu begründen.
Die Anwesenheit von Kameras wird vergessen oder überhaupt gar nicht erst gewußt, sowohl auf Seiten von „Tätern“ als auch „Opfern“ - ferner aller anderen den öffentlichen Raum nutzenden Bürger. Somit ist die Diskussion um Sicherheit mit Blick auf Ausweitung von Videoüberwachung überhaupt immer nur eine heilsversprechende, d.h. beruhigende und vermeintlich „gute“ Lösung, welche signalisiert, „wir tun was“ für die Sicherheit in der Stadt. Das Vergessen und das Nicht-Wissen von Kameras jedoch liegt auf Seiten aller - auf Handlungsebene ist hier folglich wenig verändernde Interaktion im öffentlichen Raum erwartbar, um dies nochmals zu betonen. Somit ist der präventive Charakter von Videoüberwachung weitestgehend zu vernachlässigen, Videoüberwachung erscheint als kein geeignetes Mittel, um Straftaten zu verhindern. Auch in Kassel ist es das nicht und wird es nicht dadurch, daß nun zusätzlich nicht-„Kriminalitätsschwerpunkte“ videoüberwacht werden sollen.
Mittels expandierender Law-and-Order-Rhetorik wird Videoüberwachung als Konstrukteur von „sicheren Räumen“ genutzt und kolportiert, welche als symbolisches Schutzschild ungebetene Bevölkerungsteile von vorne herein abhalten soll, Teilhaber dieser Räume zu sein und hier subjektive Sicherheitsgefühle Anderer zu beschädigen. Neben dem Aspekt eines erhofften Ausschlusses jeglicher potentieller Gefährder innerstädtischer Ordnung muß erwähnt werden, daß sicherlich auch Straftaten mittels Videoüberwachung aufgeklärt, Täter identifiziert und Fälle erfolgreich abgeschlossen werden. Doch deren Zahl ist gering, und so muß der Überwachungsaspekt und der Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung immer mitgedacht und entsprechend bewertet werden. Es darf an dieser Stelle auch gefragt werden, inwieweit sich die gegenwärtige „Maskenpflicht“ im Rahmen der Covid-19-Pandemie auf Täteridentifikationen mittels Bildaufzeichnungen auswirkt. Die staatlich verordnete Vermummung hat Potential jegliche bildgeberischen Aufklärungsansätze ad absurdum zu führen.
Anstelle einer permanenten Überwachung mittels Videoüberwachung Aller im öffentlichen Raum wäre eine Intensivierung von Sozialarbeit, Aufklärungsarbeit und elaborierter Prävention wünschenswert, um etwaige Devianz im öffentlichen Raum zielgenau bewerten zu können und mit entsprechenden Mitteln nicht ausgrenzende sondern teilhabende Unterstützungsangebote hierzu bieten zu können. Ferner bedarf es sicherlich gesamtgesellschaftlicher Veränderungen, wodurch es gar nicht erst zu einer so massiven „Entgrenzung“ von Bevölkerungsteilen führt, welche den gegenwärtigen Sicherheitsdiskurs überhaupt erst in diesem Umfang konstituiert. Was weiter bleibt ist in jedem Fall eine nötige Diskussion um Videoüberwachung, welche sich weithin als Symptomatik einer unzulänglichen Auseinandersetzung und mangelnden konstruktiven Beachtung gesellschaftlicher und sozialer Brüche etabliert hat.

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https://www.labournet.de/interventionen/grundrechte/kommunikationsfreiheit/datenschutz/videoueberwachung/videoueberwachung-in-kassel-2020-ein-kommentar-zur-innerstaedtischen-ausweitung-von-ueberwachungsinfrastruktur/

https://netzpolitik.org/2017/kassel-treibt-videoueberwachung-trotz-ungeklaerter-rechtsgrundlage-voran/

https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/straftaten-mehr-videoanlagen-2020-in-hessen-16548875.html

https://de.indymedia.org/node/17668

http://neue-kasseler-zeitung.de/tag/videoueberwachung/